Zum ersten Mal sah ich Irene an einem wahnsinnig kalten Wintertag auf dem Friedhof. Ihr weißes Haar blitzte immer wieder durch einen Spalt zwischen den Koniferen, die die Wege einsäumten. Ich kniete auf dem Boden und verteilte Tannenzweige auf dem Grab, stellte eine neue Kerze auf und rückte den Brief zurecht. Als ich bemerkte, dass ich nicht allein war, begann ich sie zu beobachten und da erkannte ich, dass ich sie schon öfters gesehen hatte, eigentlich hatte ich sie jedes mal gesehen, wenn ich hier war und das war seltsam, denn ich kam nicht regelmäßig, immer in unterschiedlichen Abständen und auch nie zur gleichen Tageszeit. Aber die Frau war jedes mal ebenfalls da gewesen. Wie hatte ich sie nur jedes mal übersehen können, warum war mir nicht eher aufgefallen, dass sie offensichtlich ständig da war? Ich stand auf und beobachtete sie durch den schmalen Spalt. Obwohl sie sehr alt sein musste, waren ihre Bewegungen immer noch rasch und kräftig. Während ich über sie nachdachte, schaute sie auf, mir direkt in die Augen. Zwei grüne Augen, so tief wie das Meer, in einem feinen, wunderschönen, aber vom Alter geprägten Gesicht, schauten in meines, das langsam rubinrot anlief. Ich fühlte mich ertappt und vergaß völlig, dass sie wohl kaum ahnen konnte, wie lange ich sie schon so anstarrte. Sie hob die linke Hand zum Gruß. Sie trug nicht mal Handschuhe, ich konnte ihre deutlich hervortretende blaugrünen Adern sehen. Ich grüßte zurück und fühlte förmlich wie sich das dunkle rot in meinem Gesicht langsam aufhellte. Sie ließ ihre Zweige auf den Boden fallen und kam um die Bäume herum zu mir. Schon im Gehen streckte sie die Hand aus und rief mir, immer noch drei Meter von mir entfernt, ihren Namen zu. Als ich ihren, unerwartet festen, Gruß erwiderte, lächelte sie. „Helen, ein sehr schöner Name. Ich wollte meine Tochter auch so nennen, nur leider habe ich nie eine bekommen.“
Obwohl es so kalt war, setzte sie sich auf eine Bank und bot mir den Platz neben sich an. Noch bevor ich mich setzte und noch lange, bevor ich diese Frage auch nur gedacht hätte, begann sie mir von sich zu erzählen. „Mein Mann starb vor 18 Jahren, er war damals schon 72 Jahre alt. Er küsste mich eines Abends und schlief selig neben mir ein, wie jeden Abend, aber am nächsten Morgen erwachte er nicht mehr...“ Sie sprach eine Stunde ununterbrochen von ihrem Mann, der im Krieg gewesen war, der sie auf Händen getragen hatte, der ihr jeden Wunsch erfüllen wollte, es aber nicht konnte, weil es ihnen ständig an Geld fehlte, egal wie hart beide arbeiteten. Sie erzählte, dass beide sich Kinder gewünscht hatten und doch kinderlos blieben, da sie sich immer wieder sagten, dafür seie noch Zeit im Leben. Sie sagten es sich so lange, bis keine Zeit mehr war. Sie waren jedoch nicht todsterbensunglücklich darüber, denn sie hatten ja einander. Sie sprach von einem Leben, dass nie für Levy und mich bestimmt gewesen war und dass ich auch nicht gemeinsam mit Noah zu führen fähig gewesen wäre [...]
Dies ist der vorerst letzte Ausschnitt, den ich hier veröffentlichen werde.
Dies ist der vorerst letzte Ausschnitt, den ich hier veröffentlichen werde.
"Irene" verstarb im letzten Jahr im Alter von 86 Jahren, sie wurde neben ihrem Mann bestattet. Im Frühjahr diesen Jahres legte ich einen Kirschblütenzweig auf ihrem Grab ab und dankte ihr für die wundervolle Zeit, die ich mit jener außergewöhnlichen Frau verbrachte.
Now that I must go I know you'll wait for me...
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