Freitag, 30. Dezember 2011

When I'm gone from here, will you wait for me?

Zum ersten Mal sah ich Irene an einem wahnsinnig kalten Wintertag auf dem Friedhof. Ihr weißes Haar blitzte immer wieder durch einen Spalt zwischen den Koniferen, die die Wege einsäumten. Ich kniete auf dem Boden und verteilte Tannenzweige auf dem Grab, stellte eine neue Kerze auf und rückte den Brief zurecht. Als ich bemerkte, dass ich nicht allein war, begann ich sie zu beobachten und da erkannte ich, dass ich sie schon öfters gesehen hatte, eigentlich hatte ich sie jedes mal gesehen, wenn ich hier war und das war seltsam, denn ich kam nicht regelmäßig, immer in unterschiedlichen Abständen und auch nie zur gleichen Tageszeit. Aber die Frau war jedes mal ebenfalls da gewesen. Wie hatte ich sie nur jedes mal übersehen können, warum war mir nicht eher aufgefallen, dass sie offensichtlich ständig da war? Ich stand auf und beobachtete sie durch den schmalen Spalt. Obwohl sie sehr alt sein musste, waren ihre Bewegungen immer noch rasch und kräftig. Während ich über sie nachdachte, schaute sie auf, mir direkt in die Augen. Zwei grüne Augen, so tief wie das Meer, in einem feinen, wunderschönen, aber vom Alter geprägten Gesicht, schauten in meines, das langsam rubinrot anlief. Ich fühlte mich ertappt und vergaß völlig, dass sie wohl kaum ahnen konnte, wie lange ich sie schon so anstarrte. Sie hob die linke Hand zum Gruß. Sie trug nicht mal Handschuhe, ich konnte ihre deutlich hervortretende blaugrünen Adern sehen. Ich grüßte zurück und fühlte förmlich wie sich das dunkle rot in meinem Gesicht langsam aufhellte. Sie ließ ihre Zweige auf den Boden fallen und kam um die Bäume herum zu mir. Schon im Gehen streckte sie die Hand aus und rief mir, immer noch drei Meter von mir entfernt, ihren Namen zu. Als ich ihren, unerwartet festen, Gruß erwiderte, lächelte sie. „Helen, ein sehr schöner Name. Ich wollte meine Tochter auch so nennen, nur leider habe ich nie eine bekommen.“
Obwohl es so kalt war, setzte sie sich auf eine Bank und bot mir den Platz neben sich an. Noch bevor ich mich setzte und noch lange, bevor ich diese Frage auch nur gedacht hätte, begann sie mir von sich zu erzählen. „Mein Mann starb vor 18 Jahren, er war damals schon 72 Jahre alt. Er küsste mich eines Abends und schlief selig neben mir ein, wie jeden Abend, aber am nächsten Morgen erwachte er nicht mehr...“ Sie sprach eine Stunde ununterbrochen von ihrem Mann, der im Krieg gewesen war, der sie auf Händen getragen hatte, der ihr jeden Wunsch erfüllen wollte, es aber nicht konnte, weil es ihnen ständig an Geld fehlte, egal wie hart beide arbeiteten. Sie erzählte, dass beide sich Kinder gewünscht hatten und doch kinderlos blieben, da sie sich immer wieder sagten, dafür seie noch Zeit im Leben. Sie sagten es sich so lange, bis keine Zeit mehr war. Sie waren jedoch nicht todsterbensunglücklich darüber, denn sie hatten ja einander. Sie sprach von einem Leben, dass nie für Levy und mich bestimmt gewesen war und dass ich auch nicht gemeinsam mit Noah zu führen fähig gewesen wäre [...]

Dies ist der vorerst letzte Ausschnitt, den ich hier veröffentlichen werde.
"Irene" verstarb im letzten Jahr im Alter von 86 Jahren, sie wurde neben ihrem Mann bestattet. Im Frühjahr diesen Jahres legte ich einen Kirschblütenzweig auf ihrem Grab ab und dankte ihr für die wundervolle Zeit, die ich mit jener außergewöhnlichen Frau verbrachte.

Now that I must go I know you'll wait for me...


Donnerstag, 22. Dezember 2011

„24.Juli 2005 – 17. November 08“

Ich sitze in einem Stuhl vor deinem Bett. In einem unbequemen Stuhl und ich sitze hier schon seit mehreren Stunden. Und du schläfst, zumindest hältst du die Augen geschlossen, um mich in dem Glauben zu lassen, du würdest schlafen. Aber glaubst du wirklich, ich würde denken, du könntest schlafen, trotz der Schmerzen in deinem Körper? Selbst nach all der Zeit willst du mich noch immer schützen. Doch ich wünschte, du würdest aufhören, mich wie ein kleines Kind zu behandeln, oder wünsche ich nur, dass ich nun dran bin, dich zu schützen?
Ich sitze in einem Stuhl vor deinem Bett, seit Stunden. Und das einzige, worüber ich nachdenken kann ist, was ich zu dir sage, wenn du die Augen wieder öffnest. Soll ich etwas Lustiges sagen, weil ich mir wünsche, dich noch mal lachen zu sehen? Soll ich etwas Tiefgründiges sagen, weil ich kaum noch Zeit habe, irgendetwas zu dir sagen? Soll ich sagen, was du mir bedeutest, weil du nicht gehen sollst, ohne zu wissen, was ich schon so lange für dich empfinde?
Als du mir aber tatsächlich in die Augen schaust, kann ich nichts von all dem sagen, was in meinem Kopf kreist, stattdessen springe ich auf mit der Ausrede, dir etwas zu trinken holen zu wollen. Noch bevor ich aufrecht stehe, greifst du nach meiner Hand und ziehst mich zu dir aufs Bett und flüsterst mir ins Ohr: „Erinnerst du dich noch an jene eine Nacht?“ Du schmunzelst und auch ich kann mir mein Lächeln nicht zurück halten bei dem Gedanken daran. Natürlich erinnere ich mich, manchmal da fühlt es sich sogar noch so an, als wäre es nur wenige Minuten her. Wir schließen die Augen, beide versunken in einem nebligen Dunst der Erinnerung. Ich erinnere mich an jedes Detail aus dieser Nacht. Es war ein halbes Jahr nach Levys Tod und anfänglich wehrte ich mich dagegen, ich wollte ihn nicht betrügen, nicht mit dir. Ich wollte einen Toten nicht betrügen. Und doch gab ich irgendwann nach, ich gab mich dir hin, mit allem, was ich dir geben konnte, mit jeder Faser meines Körpers. Ich erinnere mich an jedes Detail. Die zerwühlten hellblauen Laken auf deinem Bett, die Schatten der Lampe, die an der Decke tanzten, die Lichter der Autos draußen, die über die Wände rasten, die feinen Schweißperlen auf deiner Brust, die feinen Haare rund um deinen Bauchnabel, mein schwarzer BH, der achtlos auf der Türschwelle lag. Ich erinnere mich an jedes Detail, an jedes Gefühl, das meinen Körper in dieser Nacht durchfuhr. Ich erinnere mich an meine Abwehr, mein Nachgeben, mein Los- und Fallenlassen, die Ungewissheit, meine leichte Beschämtheit, meine Erregung, der leicht brennende Schmerz, unser Aufgehen in einander, unser Höhepunkt und danach meine vollkommene Erschöpftheit. Und jetzt liegen wir hier, auf einem Krankenhausbett, das genauso riecht, wie man es erwartet, steril und zu gleich nach Krankheit. Oder sind das etwa die selben Gerüche? Und während ich meinen Kopf ein wenig zur Seite neige, muss ich mit Entsetzen feststellen, dass auch du so riechst. Du riechst wie Krankenhaus. Du riechst nicht mehr wie du. Das Ende eines Lebens kündigt sich in den kleinen Dingen an, wie dem verlorenen Geruch, dem schwindenden Glanz der Augen, der verblichenen Farbe der Lippen. Doch auf eines hat es keinen Einfluss – auf die Lebhaftigkeit des Herzens.

And you, your sex is on fire -
Consumed with what's to transpire.

Mittwoch, 21. Dezember 2011

„Heldenzeiten“

Ich lernte Irene zu einer der dunkelsten Zeiten in meinem Leben kennen. Ich hatte die beiden Menschen verloren, die ich aus tiefsten Herzen geliebt hatte, von dem Tag an dem ich sie kennenlernte bis zu ihrem Tod. Und mein Kopf wollte einfach keinen Weg finden, damit umzugehen, dass sie beide nicht mehr bei mir waren. Seit Levy seinem Leben ein Ende gesetzt hatte, blieb mein Herz manchmal stehen und manchmal da glaubte ich, es müsse vor Schmerz zerspringen. An manchen Abenden steigerte sich dieser Schmerz ins Unerträgliche, soweit, dass ich einige Male versuchte, ihm zu folgen. Doch es gab noch jemanden, der mich auf dieser Erde hielt – Noah. Er war Levys bester Freund gewesen und ich lernte beide bei einem meiner Urlaube am Meer kennen. Wie jung wir doch waren und wie unbeschwert wir lebten. Heldenzeiten, das waren die Jahre, die ich mit ihnen verlebte. Wir waren Helden, dass wir so leben konnten, Helden, dass wir so lieben konnten.
In unseren zwei gemeinsamen Jahren spielten drei Komponenten die Hauptrolle: Liebe, Angst und Träume – Noah, Levy und ich. Und von all dem habe ich Irene wissen lassen und ich weiß, hätte ich das nicht getan, hätte ich diese Zeit meines Lebens nicht überstanden. Ich wäre weiter gefallen, bis ich ganz unten aufgeschlagen wäre, doch eine unerwartete Hand riss mich wieder nach oben.

Dienstag, 20. Dezember 2011

„Tränenschwere lachende Erinnerung“

 ... der Beginn eines Buches, dass ich pro Jahr einmal umschreibe ...
Ich widme die folgenden Posts Cilli, die an Kreativität, Freundlichkeit und Wärme unübertroffen in meinem Leben steht 
"Die Welt sollte sich bunter gestalten und ihre Farben nicht für sich behalten."

Wenn ich mich heute an die Zeit mit Irene zurückerinnere, sehe ich immer ein und die selbe Szenerie vor mir. Es war ein lauer Tag im Mai, wir saßen in ihrem verwachsenen kleinen Garten auf der dunkelblauen Bank, von der die Farbe allmählich abblätterte. Über uns breite der uralte knochige Kirschbaum seine Zweige aus. Bei jedem Windstoß lösten sich einige seiner Blüten von den Zweigen und schwebten zu uns herab. Ich sehe noch die schon leicht welken Blütenblätter, die sich in ihrem Haar verfangen haben, ich sehe noch ihre grünen Augen, die das Leid ihres ganzen Lebens in sich eingeschlossen hatten und trotzdem voller altersweiser Wärme zu mir blickten, ich sehe noch ihr langes nahezu weißes Haar, das sie zu einem lockeren Knoten gebunden trug, ihr dunkelblaues Kleid, welches bewirkte, dass sie mit der Bank verschmolz, so als wäre sie schon immer Teil dieses Gartens. Ich habe ein wundervolles Jahr mit ihr verlebt, ein Jahr voller Geschichten, voll tränenschwerer lachender Erinnerung – ein Jahr, dass ich mein Leben lang nicht vergessen werde, so wie jenen lauen Tag im Mai.

Donnerstag, 8. Dezember 2011

Now and then I think of when we were together
Like when you said you felt so happy you could die
Told myself that you were right for me
But felt so lonely in your company
But that was love and it's an ache I still remember

Zu sagen, ich hätte “hin und wieder” an diese Zeit gedacht, wäre wohl untertrieben. Es gab wohl kaum eine Sache, der ich den letzten Monaten so viel Raum gegeben habe, wie dem Gedanken an uns – an die Zeit, die wir zusammen verbrachten, an den Abend, an dem wir uns zum ersten Mal näher kamen, an den Abend, an dem mir klar wurde, was du für mich bist, als du meine Hand nahmst und ich dir mein Herz schenkte. Die ersten Tage und Wochen waren ein einziges Schweben, ein Dahingleiten im Glück. Es gab nichts Wichtigeres, als die Zeit die wir zusammen verbrachten und ich dachte, dies würde für immer so bleiben. Doch das sollte es nicht. Innerhalb einer einzigen Nacht hast du mir bewusst gemacht, wie nah Liebe und Schmerz beieinander liegen. Wir trennten uns nicht nach dieser Nacht.
Wir zerfielen, jeden Tag ein Stück mehr.

 
You can get addicted to a certain kind of sadness
Like resignation to the end
Always the end
So when we found that we could not make sense
Well you said that we would still be friends
But I'll admit that I was glad that it was over

Ich hätte gehen sollen. Nachdem du mir sagtest, du glaubst nicht an uns, hätte ich erkennen müssen, dass es für mich damit beendet war. Aber ich habe mir eingeredet, alles was wir bräuchten, war mehr Zeit. Zeit und deine Zweifel würden verschwinden und du würdest so empfinden wie ich. Und jeder Tag von da an war wie das Gehen auf glühenden Scherben. Jeder Tag, jeder Atemzug, jeder Herzschlag tat weh. Und das, was diesen Schmerz verursachte, war die blanke Angst. Vor nichts hatte ich so viel Angst, wie dich zu verlieren und gerade das geschah. Ich habe zugelassen, dass es nichts Bedeutsameres für mich gab und damit ließ ich zu, dass du mir alles nehmen konntest. Ich machte mich verletzlich, ich legte für dich alles offen – und im Nachhinein komme ich mir nackt vor, verraten und entblößt. Du hast entschieden, dass es keine Zukunft gibt – du hast über uns entschieden, ohne dass ich die Chance hatte, ein Wort dazu zu sagen. Wir redeten uns von da ab ein, wir könnten als Freunde weiter machen, auf „einer Seite stehen“. Doch nie zuvor war ich gemeinsam so einsam. Es war der reinste Selbstbetrug und auch das hast du mir auf eine schmerzvolle Art bewusst gemacht, denn du hast mich in dem Moment allein gelassen, wo ich dich mehr als je zuvor und mehr als andere brauchte.
„Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast.“
Wohlgemerkt: diesen Satz habe nicht ich ins Spiel gebracht.


 
But you didn't have to cut me off
Make out like it never happened
And that we were nothing
And I don't even need your love
But you treat me like a stranger
And that feels so rough
You didn't have to stoop so low
Have your friends collect your records
And then change your number
I guess that I don't need that though
Now you're just somebody that I used to know

Ich weiß nicht, ob du jemals ernsthaft etwas gefühlt hast und auch wenn du das beteuerst, nach all dem, was geschehen ist, kann ich dir das einfach nicht abnehmen. Es macht mich selbst verlegen und ärgerlich zugleich, doch die Wahrheit ist, ich habe mich noch nie so verliebt. Es war keine lange Zeit, doch das hat es für mich nicht weniger real und ernsthaft gemacht. Ich habe jedes Wort so gemeint, wie ich es gesagt habe und jeder Gedanke, den ich fasste, war die reine Wahrheit. Ich glaubte an uns als etwas Besonderes. Doch du hast mich aus deinem Leben gestrichen, von einem Tag auf den anderen. Ich weiß nicht, ob du damit hoffst, es ungeschehen machen zu können. Ich weiß nicht, wie ein Mensch sich in so kurzer Zeit so wandeln kann. Auf dieses Niveau hätten wir uns nicht begeben müssen, das hatten wir beide nicht nötig. Denn jetzt sind wir beide ein Nichts. Nichts von Bedeutung. Nichts, woran man sich erinnern möchte. Nichts, das bleibt.
Nur zwei Menschen, die einander einst kannten.

Now and then I think of all the times you screwed me over
But had me believing it was always something that I'd done
And I don't wanna live that way
Reading into every word you say
You said that you could let it go
And I wouldn't catch you hung up on somebody that you used to know...

 
Ich bin wochen-, gar monatelang in einem tiefen Sumpf versackt. Ich dachte nicht, dass ich überwinden könnte, was du aus mir gemacht hast. Und dann kam ein Tag, an dem ich den Weg plötzlich vor mir sah, und es war gar nicht so unmöglich, die Lösung war gar nicht so schwer zu finden – ich hatte diese eine Entscheidung zu treffen:
So will ich nicht leben.

But you didn't have to cut me off
Make out like it never happened
And that we were nothing
And I don't even need your love
But you treat me like a stranger
And that feels so rough
You didn't have to stoop so low
Have your friends collect your records
And then change your number
I guess that I don't need that though  

Now you're just somebody that I used to know

Meine beste Freundin schrieb mir einst Folgendes:
„Nach jedem Tag der traurig war
Beginnt ein neues schönes Jahr!“
Und es hat eine Weile gebraucht, bis ich darin die Wahrheit erkannte und nicht nur eine Floskel, die keine Leere in mir füllen konnte. Es hat eine Weile gedauert und es war sicherlich kein leichter Weg, doch etwas weiß ich jetzt genau:
Nur weil man einen Weg einsam beginnt, heißt es nicht, dass einem auf dieser Reise keine Menschen begegnen können, die das Leben bereichern.
Diese Glück habe ich erlebt und erlebe ich immer noch.
Ihr seid der Grund, der es mir ermöglicht hat, dass Lächeln nicht mehr schmerzt, dass mein Herz langsam und Schritt für Schritt dazu bereit ist, wieder etwas zu empfinden.

Unsere Beziehung mag ein riesiger Fehler gewesen sein und du ein egoistischer, rücksichtloser Mensch, doch ständig daran zu denken, bringt mich nicht voran ... und deshalb lasse ich dich los.
Du hast mich nicht verlassen, damit wir einsam sind,
sondern damit wir mit den richtigen Menschen zusammen sein können.