Noah erwachte aus einem langen Traum, in letzter Zeit träumte er nachts wieder, Träume, die einen den ganzen Tag über beschäftigen können, doch deren Einzelheiten verschwinden, je genauer man über sie nachdenkt. Wen interessiert‘s, es sind nur Träume, die nicht wahr sind. Doch warum schwiffen seine Gedanken dann stets zu diesen Träumen ab? Er stand auf und ging, wie gewöhnlich, zuerst ins Bad, als er in den Spiegel sah, blickte ein hagerer, junger Mann mit halb langen braunen Haaren und einem schmalen, hübschen Gesicht zurück. Noah wendete sich ab, er konnte sein Ansehen morgens nicht ertragen. Nachdem er seine morgendlichen Rituale beendet hatte, sah er auf die Uhr und bemerkte, dass er heute noch recht zeitig dran war, also entschied er sich eine Bahn eher zu fahren. Den Kopf gegen die kalte Scheibe gedrückt, sah er hinaus, die graue, noch im Dunst der Nacht liegende Stadt glitt an ihm vorbei, wie rasende Schatten, im Grunde sah er sie gar nicht. Er dachte über etwas anderes nach. „Wenn das Leben ist, wie muss der Tod sein?“ Noch bis Samstag, dann würde alles vorbei sein, er würde dieser Welt, die er so sehr hasste, entfliehen, alles was man ihm angetan hatte, vergessen, noch vier Tage.
„Erst, wenn sie den Zusammenhang verstehen, werden sie den Mensch verstehen...“ Seit einer Stunde saß Noah in der Lesung und hörte dem Professor zu, der mit anhaltend monotoner, einschläfernder Stimme über das Gebiet der Psyschosomatik redete, doch von all dem, was er gesagt hatte, hatte Noah nur wenig behalten, warum auch, was soll es bringen, er stand auf und verließ den Hörsaal. Im parkähnlichen Innenhof der Universität sitzend, sah er auf der anderen Seite eine junge Frau, vielleicht zwei Jahre jünger als er, sie war ihm schon früher aufgefallen, und er sah sie gern. Sie war so gar nicht, wie die anderen Frauen, die er aus seinen Kursen her kannte. Diese Mädchen waren meistens ganz ihrer Arbeit zu gewannt und was noch viel wichtiger war, sie waren immer gewöhnlich. Doch sie war anders. Wenn sie in ihren langen schwarzen Röcken und ihren schwarzen Blusen an ihm vorbei ging, dann war es fast, als schwebte sie, immer begleitet vom Duft von Orangenblüten, und dieser Geruch, das Klimpern ihrer unzähligen Armreifen, das Wehen ihres lockigen Haares, verzauberten Noah, und hielten ihn für kurze Zeit gefangen. „Mein Name ist Hilary. Ich studiere im zweiten Semester Philosophie. Und du?“ „Noah, sechstes Semester Psychologie und Psychoanalyse.“ Sie trafen sich seit zwei Tagen, in den Pausen im Hof, redeten über ihr Studium und alltägliche Dinge, wie die Morgennachrichten. Im Unterricht dachte er nur an sie, und abends setzte er sich hin und malte sie, so wie in seinen Träumen. Warum muss ich sie verlassen, wenn sie doch das Einzige ist, was ich liebe?
„Ich wünsche dir noch ein schönes Leben.“
„Was, aber ich fahre doch übers Wochenende nur zu meinen Eltern rüber in die Stadt. Ich versteh nicht, was meinst du, am Montag sehen wir uns wieder.“
„Wenn du wieder kommst, bin ich tot.“
23.55Uhr, Noah stand auf der Brücke, die Waffe in der Hand. Seine Mutter im Garten, ihn in den Armen, seine Mutter am Strand mit ihm an einem sonnigen Tag, seine Mutter hinab gelassen in einem hölzernen Sarg, er an der Hand seines Vaters. Dann die Jahre des Schweigens, bis er von zu Hause weglief. Der letzte Schultag, der Abschlussball, das Einschreiben an der Uni. Hilary, als er sie zum ersten mal sah. Er weinte und schloss die Augen, es ist ganz leicht und dann ist es vorbei, für immer. Er führte die Waffe zum Kopf.
Es war ein schöner Tag im Oktober, der Wind blies heftig, wehte die verbliebenen Blätter von den Bäumen, hinab auf die Gäste, hinab auf seine Familie und Hilary, alle in tiefes Schwarz gehüllt, nur Hilary trug eine große, rote Blüte am Mantel, sie blickte zum Himmel. Sie schaute fragend auf, wenn das Leben ist, wie muss dann erst der Tod sein?
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